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Die Erinnerungen von Irma Hirsch ( Yael Lev )

Aufgezeichnet im Jahre 2001

Sie zählte 77 Jahre bei ihrem Tode

Familiengeschichte und Kindheit in der Stadt Linz am Rhein

Meine Mutter, Meta Hirsch, wurde 1887 als Tochter eines Rindfleischhändlers in der Stadt Burg Steinfurt geboren, welche sich im Nordwesten Deutschlands befindet. Die finanzielle Situation der Eltern meiner Mutter war nicht sehr gut und meine Mutter, eine von sieben Kindern, erhielt ein Stipendium, um Lehrerin zu werden. Zu einem späteren Zeitpunkt fuhr meine Mutter anlässlich der Hochzeit ihres Bruders mit meiner Tante Resha nach Linz am Rhein. Dort lernte sie den Bruder von Resha, namens Eugen kennen, den sie später heiratete.

Mein Vater Eugen wurde 1881 in der Nähe von Linz geboren. Mein Großvater väterlicher Seite erbaute 1913 in der Stadt Linz ein ziemlich großes Gebäude, das damals als Stoff-Bekleidungs- und Malergeschäft diente. Bis heute steht dieses Gebäude unverändert. Die Geschäftsunternehmer waren mein Vater und sein Bruder Harry. Im Untergeschoss befand sich ein Speisesaal für die 16 Angestellten. Dies waren für die damalige Zeit außerordentliche soziale Leistungen. Später baute mein Großvater noch zusätzliche Wohnungen für seine und die Familie meines Vaters. Mein Großvater verstarb 1915. Nach seinem Tode führten das Geschäft mein Vater und sein Bruder Harry weiter.

Meine damalige Familienwohnung bestand aus 6 Zimmern, einer großen Küche und vor allem einem großen Garten, vor und hinter dem Wohnhaus. Im hinteren Teil des Gartens gab es Turn- und Spielgeräte, umgeben von Obstbäumen. Der vordere Gartenbereich bestand aus Rasen, Blumenbeeten, Fliederbüschen, Nussbäumen und Nadelbäumen, auf denen die Eichhörnchen lebten. Zur Obsternte luden wir die jüdischen Kinder der Gemeinde zur Nachlese ein, da wir über so viel Obst verfügten.

Meine Schwester Lore wurde 1921 als älteste Tochter geboren, nach ihr folgte noch eine Tochter, die aber einige Tage später nach der Geburt starb. Die Todesursache war unklar und zu meiner Geburt im Oktober 1924 entschieden sich meine Eltern eine Säuglingsschwester für die Zeitspanne eines Jahres anzustellen. Mit ihr entwickelte sich eine intensive Beziehung, die sogar dazu führte, dass sie mich später in Matzuva besuchte. Ich war immer von Freundinnen umgeben und fühlte mich nie alleine.

Die schöne Stadt Linz befindet sich am Rhein und zählt 9000 Einwohner. In der Vergangenheit verfügte sie über eine jüdische Gemeinde und sogar über eine jüdische Schule. Als ich ins Schulalter kam, war es für meine Eltern selbstverständlich, dass ich eine Privatschule besuchen werde, obwohl in der normalen öffentlichen Schule der gleiche Lehrstoff erteilt wurde. Ich besuchte eine Klosterschule, die von Franziskaner-Nonnen geleitet wurde. Unsere Klasse bestand aus 6 Mädchen und so erhielten wir einen sehr individuellen Unterricht. In der 1. Klasse bestand während des ganzen Schuljahres Bibelunterricht als erstes Schulfach auf dem Programm. Auch ich nahm an diesem Unterricht teil. In der 2. Klasse wurde das Neue Testament durchgenommen und ich war von der Teilnahme befreit. Diese Zeit nutzte ich, in dem Krankenhaus geistig Behinderter zu verbringen, welches zum Kloster gehörte. Ich liebte es, die Patienten zu beobachten und mit ihnen zu sprechen und verspürte dabei keine Angst vor ihnen. An dieser Schule lernte ich bis zum Ende der 4. Klasse. Von der 5. Klasse an gehörte ich schon zum Gymnasium, welches sich in einem anderen Teil des Klosters befand.

Die Erinnerungen an unser Haus konzentrieren sich vor allem auf den Dachboden, der als Speisekammer unseres eingemachten Obstes aus unserem Garten diente. Das ganze Jahr über erfreuten wir uns der Konfitüren und Kompotte. Ebenfalls befand sich auf dem Dachboden ein extra abgeteilter Bereich für die Aufbewahrung von Wein. In der Umgebung von Linz wurde viel Wein angebaut und in meiner Familie wurde jeden Tag zum Mittagessen Wein getrunken.

Meine Mutter führte für das Familienunternehmen die Buchführung und für mich wurde aus diesem Grunde ein Mädchen angestellt, die sich um mich kümmerte und auf mich aufpasste. Ich war ein sehr verwöhntes Kind.

Da mein Vater ein sehr akzeptierter Buerger der Stadt war, standen auch mir verschiedene Privilegien zu. Z.B. bei einem Arzt, der der Freund meines Vaters war, brauchte ich nicht im Wartezimmer zu warten. Ebenso bei der Zahnärztin, die eine Klassenkameradin meines Vaters war. Während der Behandlung stand ihre Freundin an meiner Seite und hielt mir die Hand. Man muss bedenken, dass man zu dieser Zeit noch keine örtliche Betäubung kannte.

Im Februar 1931 kam mein Vater eines Tages früher als gewöhnlich von seiner Arbeit im Geschäft nach Hause, da er sich nicht sehr wohl fühlte. Er erkrankte an einer Lungenentzündung. Ich erinnere mich, dass ich im Garten spielte und den Arzt weinend unser Haus verlassen sah, da er bereits wusste, dass es keine Hoffnung auf eine Genesung meines Vaters gab. Und so war es auch, mein Vater verstarb an der Krankheit. Es fällt schwer, sich die Trauer der Familie, der jüdischen Gemeinde sowie der ganzen Stadt vorzustellen.

Zum Zeitpunkt der Beerdigung waren alle Geschäfte geschlossen. Mir wurde damals nicht erlaubt, an der Beerdigung teilzunehmen, was ich sehr bedauere. In der Linzer Stadtzeitung erschien ein Bericht an sein Gedenken, aus dem ich einige Teile zitieren möchte:

  ... die große Anzahl von Menschen, die ihn auf seinem letzten Weg begleiteten, zeugt von dem Ausmaß seiner Sympathie und dem Respekt, den er von allen Schichten der Einwohner bekam... der Verstorbene war ein Mensch mit einem guten Herzen und einer reinen Seele und nicht nur unsere jüdische Gemeinde, der er für viele Jahre als Vorsitzender diente, sondern die ganze Stadt Linz erlitt einen schweren Verlust, eingeschlossen aller Organisationen und Freundeskreisen. Eugen Hirsch war, gemäß den Worten eines engen Bekannten, ein Mensch, der keinen Feind kannte, der Familienwurzeln pflegte und ehrte sowie seine Tätigkeiten ebenso der Gemeinde und seiner Umgebung widmete.“

Nach meines Vaters Tod  wurden wir uns bewusst, dass wir kein einziges Foto von ihm besaßen, nur das nicht sehr gute Passfoto. Meine Mutter kannte einen Maler, der auch ein Freund meines Vaters war, und dieser zeichnete anhand des Passfotos und seiner Erinnerung ein außergewöhnlich echtes Bild meines Vaters. Dies hing an einer großen Wand unserer Wohnung und ist ebenfalls in dem Buch der Stadtgeschichte, welches 1992 erschien, abgegeben.

Meines Vaters Bruder, Onkel Harry, Großvater von Marianne, hat sich nach dem Tode meines Vaters sehr bemüht, uns das Leben zu erleichtern. Wir erhielten von ihm sehr viel Aufmerksamkeit und ich habe es vor allen Dingen ihm zu verdanken, dass ich so gut über den Verlust meines Vaters hinwegkam. Er hat uns, und vor allen Dingen mich, an seinen Gedanken teilhaben lassen.

Ein Wort zu Nachbarn: Wir wohnten in einem 2-Familienhaus zusammen mit einem kinderlosen katholischen Ehepaar. Wir hatten ein außerordentliches gutes Verhältnis zu ihnen. Noch Monate nach dem Tode meines Vaters schalteten sie kein Radio an, aus Respekt zu uns und meinem Vater. Des öfteren luden sie Mönche des Stadtklosters ein und auch ich habe bei diesen Besuchen Gesellschaft geleistet. Zu Weihnachten gab es dort einen wunderschön geschmückten Christbaum und meinen ersten Davidsstern erhielt ich als Geschenk verpackt, platziert unter dem Christbaum. Ich nahm an allen katholischen Feiertagen teil und an Weihnachten ging ich mit unserem Dienstmädchen in die Kirche, um den kleinen Jesus in der Krippe, umgeben von seiner Familie, zu sehen.

Unsere Nachbarn waren Gegner der Nazis. Nachdem ich Deutschland verließ, brach der Kontakt zu ihnen ab. Viele Jahre später hörte ich, dass sie baten, mir zu helfen. Dies ist vielleicht auch der Platz, die Aufgaben der Mönche und Nonnen zu erklären. Die Nonnen in Linz leiteten ein Krankenhaus und eine private Klosterschule. Die meisten Nonnen trugen Eheringe, da sie nach ihrem Glauben mit Jesus verheiratet waren. Ihre Gesetze, nach denen sie lebten, waren sehr streng: kein Treffen mit Familienangehörigen, totales Sprachverbot für einige Stunden, kein persönlicher Besitz. Die Nonnen leiteten ebenso eine Klinik für geistig behinderte Männer. Ich weiß nicht, wie viele Männer sich in dieser Klinik befanden, aber unter allen gab es einen einzigen jüdischen Patienten, namens Friedrich. Als die jüdische Gemeinde in Linz später immer kleiner wurde und es nicht mehr genügend Männer gab, um das Freitagsgebet abzuhalten, war es meine Aufgabe gewesen, Friedrich abzuholen und in die Synagoge zum Gebet zu bringen. Er war kein gewalttätiger Mensch und ich erinnere mich, dass ich damals 11 oder 12 Jahre alt, an dem großen Klingelknopf des Klosters schellte und ein Mönch mir öffnete. Friedrich war bereit, er war sauber gekleidet, auf dem Kopf eine Baskenmütze. Ich nahm ihn an die Hand und wir gingen zusammen zu der nicht weit entfernten Synagoge.

 

Nach der 4. Klasse ging ich aufs Gymnasium, welches ebenfalls von Nonnen geleitet wurde. Ich war damals die einzige Jüdin in der Klasse. Ich wurde von den Nonnen gut behandelt. Einmal im Zeichenunterricht zeichnete ich ein Mädchen in einem Rock, der nach der Auffassung der Nonne zu kurz war. Sie bat mich, dies zu korrigieren. Das hat mich damals sehr geärgert und ich habe den Rock in einer anderen Farbe verlängert. Auf die Frage der Nonne "warum in einer anderen Farbe?" antwortete ich, dass es sich um eine sehr arme Familie handelte, die nicht mehr denselben Stoff zur Verfügung habe. Sie mochten es auch nicht, wenn ich am Sonntag mit einem Jungen, der bei meiner Familie zu Besuch war, spazieren ging. Am meisten aber störte sie es, dass ich "Verbotene Bücher" las und deren Inhalt meinen Freundinnen erzählte. Sie bestellten meine Mutter in die Schule und baten sie, mich von der Schule zu nehmen. Meine Mutter ihrerseits bat die Nonnen, mich noch das Schuljahr abschließen zu dürfen, da bereits feststand, dass wir von Linz nach Düsseldorf ziehen werden.

Selbstverständlich wurde die jüdische Seite meiner Erziehung nicht vergessen. Einmal in der Woche kam ein jüdischer Lehrer aus der Nachbarstadt und lehrte die wenigen jüdischen Kinder hebräisch Lesen und Schreiben und erteilte Bibelunterricht. Wir waren nicht streng religiös, aber pflegten die wichtigen jüdischen Feiertage. Am jüdischen Neujahrstag und Yom Kippur Tag war das Geschäft geschlossen. An anderen jüdischen Feiertagen bekamen unsere jüdischen Angestellten frei oder man gestattete es ihnen, wenigstens zur Synagoge zu gehen. Passover war ein sehr wichtiger Feiertag. Nach dem Tode meines Vaters leitete ein Rabbi, den wir bestellt hatten, die Seder. Da es im Ausland üblich ist, zwei Seder-Abende abzuhalten, verbrachten wir den ersten zu Hause und den zweiten entweder bei meinem Onkel Harry oder bei Freunden in einer anderen Stadt. Das Chanukka-Fest feierte die ganze Familie mit Freunden und die Vielzahl der Geschenke war überwältigend für uns alle.

Noch ein Wort zur Atmosphäre bei uns zu Hause: wir waren, wie man es nennt "Deutsche Staatsbürger mit dem Glauben Moses". Wir waren sehr stolz, Deutsche zu sein und betrachteten uns, dazugehörig. Die Weltanschauung meiner Eltern war sehr entwickelt. Viele Familienangehörige kamen zu uns, vor allem zu meiner Mutter, um Rat oder Hilfe zu erhalten. Die wirklichen Freunde meiner Eltern waren ausschließlich Juden, und nicht aus Linz. Meine Eltern waren keineswegs Snobim, aber wirkliche Freundschaft fand nur in der gleichen Gesellschaftsschicht statt. Es gab hier zwei befreundete Familien, mit denen meine Eltern jedes Jahr ins Ausland fuhren oder den Urlaub an schönen deutschen Plätzen verbrachten. ln der Sache Erziehung gab e seine sehr klare Linie zu Hause. Ich werde nie die Reaktion meiner Mutter vergessen, als ich einmal nach unserer Angestellten klingelte, um mir ein Glas Wasser zu bringen.

 

Nach Hitlers Machtübernahme 1933 kauften wenige Einwohner der Stadt bei Juden. Sie hatten einfach Angst. Es wurde schweren Herzens entschlossen, das Geschäft zu verkaufen. Der Preis, den wir erhielten, war natürlich weit entfernt von der Realität. Erst durch den Einsatz eines Rechtsanwaltes, der zum Freundeskreis gehörte und in Holland lebte, gelang es uns, nach dem Kriege, die Differenzsummer zurückzuerhalten. Wir waren unter den ersten Juden, die Wiedergutmachung erhielten und diese wurden zwischen meiner Mutter und meinem Onkel Harry auf den Zeitraum von sieben Jahren aufgeteilt.